Corona – Auswirkungen bei Geflüchteten sichtbar machen – Wo bleibt die Solidatität?
Wir alle leben seit einem Jahr mit großen Einschränkungen und Belastungen im sozialen und beruflichen Bereich. Gerade für Menschen mit Familie ist es nicht einfach, alles unter einen Hut zu bringen. Viele haben sich auf sich selbst und die Bewältigung des eigenen Alltags zurückgezogen. Solidaritätsbekundungen auf verschiedenen Ebenen fühlen sich mittlerweile an wie eine leere Worthülse.
Aber was ist mit Menschen, die hier keine Familie, Arbeit oder Netzwerke haben?
Vor kurzem traf ich einen Menschen aus Afgahnistan, der mir ein wenig über seinen Corona-Alltag berichtet hat. Einen Teil seiner Geschichte möchte ich hier teilen und uns alle erinnern, dass es Menschen in unserer Gesellschaft gibt, die aus fast allen Hilfsprogrammen herausfallen und gezwungen sind, unter menschenunwürdigen Bedingungen zu leben.
Ali (Name geändert) kommt aus Afghanistan. Er ist Anfang 30 und hat in seinem Herkunftsland die Sekundarschule abgeschlossen und ein Ingeneurstudium begonnen. Vor acht Jahren machte er sich auf den Weg nach Deutschland und voller Hoffnung, hier ein neues Leben beginnen und sich eine Zukunft aufbauen zu können. Er lebt nun seit mittlerweile fünf Jahren hier.
Ali berichtet, dass er anfangs keinen Deutschkurs besuchen durfte, da es keine Zugangsmöglichkeiten für Geflüchtete aus Afghanistan gab. Er hat sein Deutsch auf der Straße und mit Menschen gelernt. Am Anfang, so Ali, hat es ihm hier gut gefallen. Er hat Menschen kennengelernt und war voller Energie und Tatendrang. Doch, die Asylgesetzgebung und der ständige bürokratische Wahnsinn hat ihn traurig gemacht und verzweifelt werden lassen. Sein Leben besteht seit Jahren aus Ämtergängen und vielen vielen Absagen. Ali wünscht sich, eine Ausbildung zum pharmazeutisch technischen Assistenten beginnen zu können. Doch hierfür braucht er einen anerkannten Schulabschluss. Sein Abschluss wird hier nicht anerkannt. Für Förderprogramme zur Erlangung eines Schulabschlusses mit sprachlicher Hilfe, die es auch in Halle gibt, ist er zu alt. Aber Ali hat nicht aufgegeben. Allen Umständen zum Trotz hat er 2019 mit der Abendschule begonnen, um seinen Realschulabschluss zu machen. Aber der Unterricht ist auf Deutsch. Er ist bereits ein Mal durchgefallen. Wenn das nochmal passiert, dann war es das. Keine Chance auf Wiederholung. Ende 2019 hat das Jobcenter auch endlich einen Deutschkurs genehmigt. Soweit so gut.
Doch dann kam Corona.
Der Deutschkurs findet nicht mehr statt. Die Abendschule ist zwar offen, aber Ali kann dem Unterricht nur schwer folgen. Seine Mitschüler*innen interessieren sich nicht für ihn und er hat keine Kontakte zu ihnen. Ali wohnt in einer WG. Er sagt, dass er sich wie ein Tier fühlt. Essen, Schlafen, Lernen, Schule. Jeden Tag das Gleiche.
Als er mir das alles erzählt, hat er Tränen in den Augen. Er sagt, dass sich Deutschland und seine Menschen so kalt anfühlen. Er kann nicht mehr. Er überlegt, das Land zu verlassen und es woanders neu zu versuchen, auch wenn dies ein Leben in Illegalität bedeutet. Als ich das alles höre, schnürt sich mein Herz zusammen. Wo ist die Solidarität für Menschen wie Ali? Wo sind Orte und Menschen, an die er sich wenden kann?
Ich habe ihn gefragt, ob er migrantische Beratungsstellen aufgesucht hat. Leider wurde er überall abgewiesen, da er kein Notfall ist. Andere Strukturen gibt es nicht.
Nachdem er sich ein wenig gefasst hat, ist er aufgestanden und gegangen. Er habe noch einen Termin, hat er gesagt.
Ich war ohnmächtig, sprachlos und wütend nach diesem Gespräch. Was passiert mit Menschen wie Ali? An wen können sie sich wenden? Wie viele Menschen wie Ali gibt es?
In der Krise sind Menschen wie Ali unsichtbar, fallen durch alle Raster. Auch wenn er finanziell abgesichert ist, fehlt es doch an allem für ein gutes Leben.
Auch wenn ich keine direkte Hilfe bieten kann, so ist dieser Artikel ein Versuch, Geschichten wie die von Ali sichtbar zu machen. Uns alle daran zu erinnern, dass es noch mehr Menschen gibt, die von der Krise betroffen sind, auch wenn wir sie nicht sehen können.
Julia Wenger (Eine Welt-Regionalpromotorin Saalekreis / Halle / Sachsen-Anhalt)