Freiwilligendienst-Bericht von Johanna Walther

Montag, 11.11.24, 21:23 Uhr



Am Freitag dem 1. November ist in Novi Sad im nördlichen Serbien das Vordach des Bahnhofs eingestürzt und hat großes Chaos angerichtet. 14 Menschen haben ihr Leben verloren und zum aktuellen Zeitpunkt sind weitere drei in kritischen Konditionen. Ich war zu dem Zeitpunkt mit einigen Kolleginnen in Prishtina bei einem Projekt und die Nachricht hat nachvollziehbarerweise alle erschüttert, wir alle haben Freund*innen oder Familie in Novi Sad. In meinen Kolleginnen entbrannte eine Wut, die ich ehrlicherweise zuerst nicht verstanden habe. In meinem Kopf wäre Trauer die angebrachtere Emotion. Auch Trauer war präsent, aber vor allem waren alle sehr wütend. Die Kollegin, mit der ich mir das Hotelzimmer geteilt habe, war die darauffolgenden Tage angespannt, wütend, traurig und durchgehend nur einen Moment davon entfernt in Tränen auszubrechen. Denn schnell war klar, dass das Dach nicht einfach so eingestürzt ist. Erst im Juli dieses Jahres wurde der Bahnhof nach mehreren Jahren Renovierungsarbeiten neueröffnet. Angeblich war dieser konkrete Teil des Daches nicht speziell von den Arbeiten betroffen, andere Quellen sagen, dass durch entfernte Stahlträger in einem anderen Teil des Gebäudes das Dach an Stabilität verloren hat. Es wurde also an irgendeiner Stelle bei der Renovierung gepfuscht und Menschen haben dafür mit ihrem Leben bezahlt. Meine Kolleginnen haben mir erzählt, dass es Gang und Gäbe in Serbien ist, dass für solche Projekte regierungsnahe Firmen engagiert werden, die die Arbeiten für weitaus weniger Geld verrichten, als eingeplant. Das restliche Geld stecken sich die Politiker*innen in die eigene Tasche und kaufen sich von dem Geld teure Autos und Immobilien. Die Wut galt der Regierung, der Regierungspartei SNS und dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić.

Am 5. November – der Dienstag nach dem Unglück – wurde in Novi Sad ein Protest organisiert. Gegen die Regierung und gegen die Korruption, die Menschen das Leben kostet. Es sollte der größte Protest in Novi Sad in diesem Jahrhundert werden, es waren schätzungsweise 22.000 Menschen, die auf die Straße gegangen sind. Darunter einige meiner Kolleg*innen. Als Teil der Protestaktion tapezierten einige Aktivist*innen die Stadt – und vor allem das Rathaus – mit roten Handabdrücken, begleitet von der Parole „ruke su vam krvave“ (Eure Hände sind blutig). Die Polizei war in Hundertschaften vor Ort und niemand wusste, wie der Protest verlaufen würde. Als einige Aktivist*innen begannen, das Rathaus mit Farbe und Steinen zu bewerfen, kippte die Stimmung und die Polizei bekam das Okay vom Innenministerium, sich „zu wehren“. Es wurde Tränengas geworfen und Aktivist*innen wurden verhaftet. Ein Aktivist wurde wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ zu 30 Tagen Gefängnis verurteilt, andere wurden nach einer Nacht in der Zelle wieder freigelassen. Bislang ist dahingegen niemand für den Tod der 14 Menschen zur Verantwortung gezogen worden.

Auf diesen Protest folgte am Freitag dem 8. November eine Sitzblockade auf der Brücke in Novi Sad, die von 18 Uhr bis 24 Uhr geplant war. Meine Kolleginnen Mila Pajić und Doroteja Antić – beide politisch sehr aktiv und Teil einer aktivistischen Gruppe – haben sich gegen 17 Uhr von Belgrad mit dem Zug nach Novi Sad los gemacht. Ich saß zu dem Zeitpunkt im Auto und bin übers Wochenende weggefahren und habe die folgenden Ereignisse in der arbeitsinternen WhatsApp-Gruppe verfolgt. Während ich also gerade Auto fuhr und eine gute Zeit mit Freund*innen hatte, kam um 18:32 Uhr die Nachricht meiner Chefin „Gde je Mila? Molim vas odmah da mi se neko javi. Pisite mi direktno” (Wo ist Mila? Ich bitte euch, dass sich sofort jemand meldet. Schreibt mir direkt.), woraufhin ein Kollege schrieb „Sad me zvao Aleksandar, rekao je da je privedena“ (Aleksandar hat mich gerade angerufen, er hat gesagt sie wurde weggebracht). Es wurde klar, dass sowohl Mila als auch Doroteja von (vermutlich) der Polizei weggebracht wurden. In der WhatsApp-Gruppe wurde es dann hektisch. Alle haben sofort Hilfe angeboten, unsere Chefin hat gesagt,
dass sie sich sofort in Begleitung eines Anwalts auf den Weg nach Novi Sad macht. Das Social Media Team hat sofort Posts für Instagram sowie Rundmails an jegliche Organisationen und Botschaften fertiggemacht. Auf das Zeichen meiner Chefin sind wir mit der Information publik gegangen. Alle waren merklich angespannt und gestresst und ich überfordert mit der Flut an Informationen. Innerhalb von wenigen Minuten sammelten sich in der Gruppe 150 Nachrichten an. Das juristische Team und das Social Media Team arbeiteten an der Öffentlichkeitswirksamkeit, während meine Chefin auf dem Weg nach Novi Sad war. Kolleg*innen, die schon lange nicht mehr in der Initiative arbeiten, haben Kontakte angerufen und sich bemüht, herauszufinden, wo die beiden hingebracht wurden. Eine dritte Kollegin, die auf dem Protest war, schrieb um 19:23 Uhr „Advokat je zvao sve stanice i u svakoj su mu rekli da nisu tamo“ (Der Anwalt hat jede Wache angerufen und bei jeder wurde ihm gesagt, sie seien nicht dort). Nun war also klar, dass keiner weiß, wo sich die beiden genau aufhalten, bzw. wo sie hingebracht worden sind. Unsere Chefin schrieb daraufhin „Naci cu ih ja“ (Ich werde sie finden). Um 20:21 Uhr haben wir auf Instagram gepostet, dass wir nach wie vor keine Informationen zum Aufenthalt der beiden haben. Mittlerweile wussten natürlich auch die Eltern der beiden, was los ist und waren mit unserer Chefin unterwegs. Das serbische Innenministerium hatte inzwischen geäußert, dass die Polizei Mila und Doroteja nicht verhaftet hat und dass sie nicht wissen, wo sich die beiden aufhalten. Es war also immer noch nicht klar, wer genau die beiden weggebracht hatte und wohin. Auch telefonisch waren beide nicht erreichbar, die Handys offensichtlich ausgeschaltet. Um 21:18 Uhr schrieb unsere Chefin dann nur „Pustene“ (freigelassen), woraufhin sich natürlich große Erleichterung breit machte. Nachdem sich die beiden mit dem Anwalt beraten haben, sind sie zurück zur Blockade und haben an dem Protest teilgenommen.

Mila hat sich am nächsten Tag auf Instagram mit einem Video gemeldet und ich habe auch bereits mit ihr gesprochen. Es stellte sich heraus, dass die Männer, die sie letztendlich entführt haben, vermutlich in Zivil gekleidete Polizisten waren. Alle trugen schwarze Kleidung. Mila und Doroteja wurden vor der Bahnstation in Novi Sad abgefangen und dann in ein schwarzes Auto ohne Kennzeichen befördert, teilweise durch Anwendung von Gewalt. Woher sie wussten, dass Mila und Doroteja mit diesem Zug unterwegs waren, ist nicht ganz klar. Vielleicht wurden sie abgehört, villeicht haben die Männer sie bereits seit Belgrad verfolgt. Die Männer, von denen einer sich nur mit einem Polizeiabzeichen ausweisen konnte, haben ihnen die Handys weggenommen und sie irgendwohin gebracht. Dort wollten sie Informationen zum Protest herausfinden, nachdem aber keine der beiden darauf eingegangen ist, haben sie sich laut Mila über allerlei unterhalten. Geplaudert. Mila ist der Meinung, dass der Sinn der ganzen Aktion in erster Linie war, sie vom Protest fernzuhalten. Mila hat mit einer Leichtigkeit darüber gesprochen und erzählt, dass sie die Polizisten darum gebeten hat, ihr Zigaretten zu bringen und zwischenzeitlich mit ihnen gescherzt hat.

Heute war in Belgrad wieder ein Protest bezüglich des gleichen Themas. Ich habe mich dieses Mal angeschlossen, hatte meinen Pass dabei, nur für alle Fälle. Es waren weitaus weniger Leute da, als in Novi Sad, schätzungsweise zwischen 9.000 und 10.000 Menschen. Ich war mit Mila und weiteren Kolleginnen unterwegs und Mila wurde mehr als ein Mal von fremden Personen angesprochen, die ihr Mut zugesprochen haben, die gefragt haben, wie es ihr geht oder sie sogar beglückwünscht haben. Mila ist ein bekanntes Gesicht unter Aktivist*innen und auch der Präsident kennt ihren Namen und weiß, wer sie ist. Und das ist, wie man gesehen hat, nicht ungefährlich. In dieser Gesellschaft politisch so aktiv zu sein birgt Gefahren, weil man offensichtlich Gefahr läuft, von Polizisten in Zivil entführt zu werden, ohne dass irgendjemand über den eigenen Aufenthaltsort bescheid weiß und das Innenministerium so tut, als wüsste es von nichts.
Wie es jetzt weiter geht, steht noch nicht ganz fest. Der Verkehrsminister ist zwar zurückgetreten, weist aber jegliche Schuld von sich und übernimmt keine Verantwortung. Es wird gefordert, dass die Verantwortlichen ins Gefängnis gehen, dass der Korruption ein Ende gesetzt wird und dass Vučić zurücktritt. Insbesondere bei letzterem bin ich skeptisch aber in einer Gesellschaft, in der Aktivist*innen entführt, verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt werden, während niemand für den Tod von 14 Menschen zur Verantwortung gezogen wird, ist das Einzige was bleibt, auf die Straße zu gehen und wütend zu sein.