Lanas Freiwilligendienst in Brčko (2019/2020) - eine kleine Gedankentour

Am 05.09.2019 komme ich übermüdet und plötzlich doch aufgeregt nach einer 24-stündigen Busreise am Busbahnhof von Brčko an. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Taxifahrt mit meiner Mentorin vom Busbahnhof zu unserer Unterkunft. Die Stadt erschien mir so groß: Überall Cafes, ein Park, viel Abbiegen nach links und rechts und Menschenaufläufe vor den Schulen. Mittlerweile, drei Monate später, habe ich gemerkt, dass Brčko schon ein kleineres Städtchen ist (im Vergleich zu meiner Heimatstadt Oldenburg). Ein Ausgang in das Zentrum reicht aus und schon sehe ich ein paar bekannte Gesichter. Es ist mir tatsächlich leicht gefallen, Bekanntschaft mit neuen Menschen zu schließen. Nicht zuletzt haben meine Grundkenntnisse der Sprache und die hier existierende „Cafékultur“ dazu beigetragen. „Wollen wir Kaffee zusammen trinken?“ heißt man geht zusammen in ein Café, unterhält sich (auch mit anderen Leuten, die man aus seinen Stammcafés so kennt), trinkt Kaffee, eine topla čokolada oder Exotic. Und das mehrmals in der Woche. Für mich ist es schön, mal in einer Stadt zu leben, die etwas kleiner ist. Wo man nicht durch die Anonymität geschützt wird. Es gibt mir das Gefühl zu der Community dazuzugehören.

Außerdem ist Brčko wegen seiner Geschichte sehr interessant, welche auch heute noch Auswirkungen auf die Multiethnizität hat. Damit ihr einen kleinen Überblick darüber bekommt, hier eine kleine Zusammenfassung:

Brčko unterscheidet sich von anderen Städten Bosniens, da es einen besonderen Status hat. In der Vergangenheit litt Brčko oft darunter Grenzstadt zu sein (nach Kroatien und nach Serbien/Vojvodina), so auch während des Bosnienkrieges von 1992 – 1995. Im Jahr 1995 beendet das Dayton-Abkommen den Bosnienkrieg formell. Das Abkommen teilt Bosnien in zwei Regionen basierend auf den ethnischen Zugehörigkeiten der Einwohner*innen: Die bosnisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska. Die Entscheidung darüber, wem die umkämpfte Stadt Brčko gehört, wurde einem internationalen Schiedsgericht vorbehalten. Im Jahr 1999 wurde der Stadt ein besonderer multi-ethnischer Sonderstatus gegeben. Sie gehört also zu keiner der beiden Teilgebiete. Der „Brčko Distrikt von Bosnien und Herzegowina” hat eine Selbstverwaltung, also eine eigene Regierung, ein eigenes Rechtssystem und einen eigenen Polizeiapparat. Ab 1999 kamen allmählich vertriebene Einwohner*innen zurück in die Stadt. Brčko ist heute das multi-ethnischste Gebiet in Bosnien. Bosnische Muslime und Kroaten machen circa 50 Prozent, bosnische Serben rund 45 Prozent der Bevölkerung aus. Im Gegensatz zu vielen anderen Städten in Bosnien, werden alle jungen Menschen von verschiedenen Ethnien zusammen in der Schule unterrichtet (außer in Geschichte und Muttersprache).

Obwohl sich die wirtschaftliche und politische Situation in Brčko verbessert hat darf die Gefahr für die Stabilität des Friedens nicht unterschätzt werden.

Das Kinder -und Jugendzentrum „Omladinska organizacija SVITAC“ (in dem auch in nun arbeite) arbeitet seit 1997 daran, die Vision einer friedlichen Koexistenz verschiedenster Menschen in Brčko Realität werden zu lassen. Ich arbeite dort größtenteils mit Kindern im Alter von vier bis sieben Jahren zusammen.

Der Workshop, der in der Woche täglich von 11 bis 13 Uhr stattfindet, wird von Kindern aller drei Ethnien besucht und ist kostenlos. Um 10:15 Uhr treffen meine beiden Mit-Freiwilligen ( und auch meine Mitbewohnerinnen bzw. nun Freundinnen, die ebenfalls aus Deutschland kommen) und ich im Jugendzentrum ein. Wir besprechen mit unseren Kolleginnen und Kollegen auf Englisch nochmal detaillierter den Plan für den Tag, den wir am vorherigen Freitag schon ausgearbeitet haben. Dann bereiten wir den Raum für den Workshop vor. Dazu stellen wir fünf unglaublich niedliche Tischchen in den Raum mit jeweils vier Miniaturen eines Holzstuhles. Um 11 Uhr stellen sich die meistens um die 20 Kinder in einem Vozič (=Zug) formiert auf und fahren dann in den Bahnhof von SVITAC ein. Doch vorher nehmen sie an einem relativ neuen Begrüßungsritual teil. Jedes Kind sucht sich anhand von Schildern aus, ob es (A) mit einem High-Five, (B) mit einer Umarmung oder (C) mit einem kleinen Tanz persönlich begrüßt werden möchte.

Sie ziehen ihre kleinen Winterjäckchen aus und ehe man sich versieht, liegen auf einem Stuhl, den man jetzt braucht, zwanzig unsortierte, dicke Kinderjacken. Um die Kinder ein wenig wach zu bekommen, gibt es einen Energizer. Meist besteht dieser aus einem Spiel oder einem Lied, zu dem die Kinder einen vorgemachten Tanz nachahmen, denn das lieben sie! Und los geht der Workshop: Basteln, Musik machen, Geschichten vorlesen, Spiele zusammen spielen, Buchstaben lernen,.. Es ist für mich sehr bereichernd mit den kleinen Kindern zu arbeiten, da durch ihr junges Alter Vorurteile nicht vorhanden bzw. nicht gefestigt sind, was eine gute Grundlage für Konfliktbearbeitung ist. Die Workshops behandeln meist Themen wie Freundschaft, Akzeptanz, Respekt und Hilfsbereitschaft, um die Kinder schon früh für diese Themen zu sensibilisieren. Positiver Nebeneffekt dieser Workshops ist außerdem, dass die Eltern und Großeltern der Kinder ebenfalls in Kontakt kommen, wenn sie sich im Jugendzentrum befinden, um die Kleinen vom Workshop abzuholen. Außerdem helfe ich mit den anderen Freiwilligen montags und freitags meiner Mentorin bei ihrem Deutschkurs aus. Zum Anlass internationaler Feiertage, wie zum Beispiel dem Antifaschismustag/ Menschenrechtstag/… organisieren wir auch Workshops für Kinder, die älter als 14 Jahre sind.

Jeden Donnerstag besuche in einen Trommelkurs im Jugendzentrum bei dem ich auch viele Gleichaltrige getroffen habe. Ich habe neue Menschen kennengelernt, die einen anderen kulturellen Hintergrund haben als ich. Ich habe gemerkt, dass ich die Handlungsweisen und folglich auch die Kulturen besser verstehen gelernt habe und auch für mein Verhalten einige Dinge adaptiert habe. Ich bin immer wieder überrascht wie sich die eigene Denkweise und das Verhalten ein klein wenig ändert, wenn man in ein neues Umfeld kommt und sich mit fremden Menschen unterhält. Da Bosnien und Herzegowina geografisch gar nicht weit von Deutschland entfernt ist und ich Verwandte dort habe, hätte ich gedacht zu wissen, was mich in meinem Abenteuer Freiwilligendienst erwarten wird. Rückblickend bin ich verwundert darüber, dass die ethnopolitischen Machtkämpfe hier in Bosnien in der deutschen Gesellschaft sowie im Schulunterricht so wenig zum Thema gemacht werden. Obwohl das alles direkt vor Deutschlands Haustür passiert.

Vielleicht nehme ich die Ungerechtigkeiten hier deshalb noch stärker wahr und werde davon auch emotional berührt, da ich mir vorher nicht darüber bewusst war. Es fängt bei dem geringen Arbeitsschutz an, den die Arbeitskräfte auf der Baustelle gegenüber unseres Hauses haben (lange Arbeitszeiten, Schutzkleidung..). Die zweiundzwanzig Stunden Schichten, die ein Bekannter von mir in einer Bar arbeitet. Das hohe Taschengeld, das ich bekomme im Vergleich zu dem Lohn vieler anderer Menschen. Die offensichtliche Ausgrenzung von Sinti und Roma in der Gesellschaft. Die Voraussetzung vieler Arbeitgeber*innen, einer politischen Partei anzugehören. Auch im Jugendzentrum haben wir einmal eine Diskussionsrunde über das Leben der Jugendlichen in Brčko organisiert, zu der etwa dreißig Jugendliche aus ganz Brčko verschiedenen Alters erschienen sind. Von dem Brain Drain- Effekt in Bosnien wusste ich schon vorher, war mir aber nicht bewusst darüber, wie präsent das Thema für viele Jugendliche im Alltag ist. Auf der einen Seite lernen viele von ihnen deutsch und haben Verwandtschaft in Deutschland, in dessen Umgebung sie in der Zukunft planen zu arbeiten. Auf der anderen Seite habe ich auch manche junge Menschen kennengelernt, die sich selbst versprochen haben das Land nicht zu verlassen und es selbst wieder mitaufzubauen. Ich kann beides verstehen, denn warum die Chance auf einen besser bezahlten Job und somit bessere Lebensstandards nicht ergreifen? Aber wie entwickle sich die politische und Wirtschaftslage in meinem Heimatland, wenn jede*r es verließe? Dass ich die Möglichkeiten habe, die sich andere hier erträumen gibt mir oft das Gefühl von Machtlosigkeit und ich fühle mich irgendwie schuldig, weil ich nicht mal etwas aktiv dafür gemacht habe. Aber das ist wohl das, was der Friedenskreis Halle e.V. mit dem Begriff Lerndienst meint. Ich lerne mit inneren Konflikten umzugehen, ich lerne neue Menschen kennen, ich lerne über neue Themen wie Frieden, ich lerne in einer Wohngemeinschaft zu leben, ich lerne für meine Wünsche und Ideen einzustehen. Ich kann und werde keine Lösung für die komplexen Ungerechtigkeiten hier finden. Ich versuche durch meine täglichen Begegnung mit den Kindern ihnen Werte oder Handlungsweisen mit auf den Weg zu geben, die zu einem respektvolleren Umgang mit Mitmenschen führen können. Und ich selbst lerne wie ich mit Ungerechtigkeiten um mich herum umgehe, inwiefern ich Menschen in Lebenssituationen helfen kann oder auch nicht und wer genau ich selbst eigentlich bin. Aus der Komfortzone der Heimat für eine Zeit auszusteigen, ermöglicht es mir einen Spiegel vorgehalten zu bekommen. Denn plötzlich überlegt man sich wie man sich neuen Menschen gegenüber präsentiert und wie man selbst dadurch auf andere wirkt. Fazit: Freiwilligendienst = Lerndienst im Sinne von Wissen, Menschenkenntnis und eigener Persönlichkeit.

Zum Schluss möchte ich allen, die einen Freiwilligendienst im Balkan machen wollen, ans Herz legen so viel es geht zu verreisen. Ich war mit meinen Mitbewohnerinnen in Zagreb auf dem Weihnachtsmarkt. Die ganze Stadt ist im Dezember mit einem Winterzauber belegt. Auch kleinere Orte sind sehenswert, besonders wenn es dort Berge gibt. Bosnien ist wirklich ein Geheimtipp zum Reisen, denn Touristen gibt es außerhalb der größten Städte wie Sarajevo, Banja Luka oder Mostar wenige. Und das Reisen mit dem Bus funktioniert super!

Ich erlebe hier gerade ein sehr schöne Zeit, die mich persönlich sehr bereichert und wenn ich jetzt schon daran denke den Leuten, die ich hier ins Herz geschlossen habe, in neun Monaten „tschüss“ sagen zu müssen, setzt schon ein wenig Abschiedsschmerz ein. Das spornt mich immer wieder nochmal mehr an meine Zeit hier zu genießen und meinen Ideen und Vorhaben auch nachzugehen.

  • Was immer Du kannst oder denkst, dass du es kannst, beginne es.“ (Johann Wolfgang Goethe) -



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Lana (19)