Was hab ich, wo will ich hin? Und was hat meine Organisation überhaupt von meinem Freiwilligendienst? Ein Halbzeitresümee - 18.02.2019
Seit einem halben Jahr bin ich nun hier im Kosovo, und ganz natürlich mache ich mir Gedanken darüber, was war, was ist und was sein wird. Ich nehme euch hier mit auf eine kurze Reise durch meine Gedanken. Ich frage mich momentan, was ich persönlich meiner Organisation eigentlich an Vorteilen bringe und wie sehr ich ersetzbar bin. Denn nach mir wird der*die nächste Freiwillige kommen und danach wieder und wieder und wieder. Hab ich mehr von meinem Freiwilligendienst oder GAIA Kosovo?
Damals, als ich im September hierher kam, war ich voller Neugier, Tatendrang und Energie. Mir war von vornherein klar, dass ich mit meinem Freiwilligendienst natürlich die Welt nicht ändern kann. Aber trotzdem hatte ich das Bedürfnis, irgendetwas Großes zu machen. Schließlich meinte ich, ja schon echt vieles zu können, was ich dann da einsetzen könnte, um die Arbeit der Organisation voranzubringen.
Und dann kam ich hier an.
Und musste feststellen, dass dieser Überschwang an Energie und Tatendrang auch mal nach hinten losgehen konnte. Weil es hier Strukturen gibt, die schon da sind. Deswegen werden vorhandene Fähigkeiten und Verbesserungsvorschläge, und seien sie noch so gut ausgebaut, eben erst einmal hinterfragt oder gar ganz verworfen. Irgendwie hat es ja schließlich auch vorher ohne mich funktioniert, das ist mir jetzt auch klar. Und: Wenn die Organisation – wie meine, GAIA Kosovo – in schwierigen Bereichen arbeitet, dann kann man das halt mal nicht eben nach einem Monat Mitarbeit übernehmen.
Nach ein paar Wochen war dann mein anfänglicher Übereifer ziemlich gebremst, muss ich zugeben. Ich war ein wenig sauer, manchmal, und ich fand mich auf einem niedrigen Level wieder. Ich will nicht sagen, dass ich mir unnütz vorkam, sondern ich war vielmehr wie eine Erstklässlerin, die gerade lesen lernt. Ich lernte den Kosovo und seine Menschen zu lesen, ich lernte unser Permakulturgrundstück kennen und mich in die Arbeitsabläufe einzupassen. Ich hatte keine Ahnung von nichts. Also im Prinzip ein kompletter Neuanfang. Nachdem ich durch meinen Bachelorabschluss und meine Arbeit nebenher ja durchaus schon einige Kompetenzen erworben hatte, hatte ich nicht erwartet, dass es wieder ganz von null losgehen würde.
Obwohl das vielleicht dann doch etwas übertrieben ist. Denn je mehr und je tiefer ich dann in unseren Alltag eingearbeitet war, und je besser sich unser Team kennenlernte, desto mehr meiner Kompetenzen konnte ich dann einbringen. Und das waren und sind nicht unbedingt die Kompetenzen, die ich persönlich als am wichtigsten eingeschätzt hätte. Ich bringe anderen bei, wie man Brot mit Sauerteig bäckt oder Joghurt aus Frischmilch macht – Sachen, die ich mir irgendwann nebenbei selbst beigebracht hatte. Kleinigkeiten, die ich irgendwann einmal gelernt habe und die ich zum Teil für selbstverständlich hielt, blühten hier zum Teil plötzlich als ganz groß auf und waren sehr hilfreich für andere.
Jetzt, nach einem halben Jahr hier, glaube ich, einigermaßen meinen Platz gefunden zu haben. Ich kann das nicht ausdrücklich sagen, weil sich auf unserem Permakulturgelände die Arbeit mit den Jahreszeiten wandelt und ich Frühling und Sommer noch nicht erleben durfte. Vielleicht erwacht in mir ja noch die Schreinerin, wenn wir unseren Dachstuhl fertigstellen und unseren neuen Heuschober bauen, oder die Ingeneurin, wenn wir unsere Windturbine konstruieren? Wer weiß. Jedenfalls bin ich heiß drauf!
Gerade schleicht sich ein wenig die Gemütlichkeit bei mir ein, die Gewohnheit. Und ich fürchte, dass das trügerisch ist. Eigentlich will ich hier noch mehr Neues lernen, und mich immer weiterbilden. Aber da ist immer noch so das Gefühl: Eigentlich sollte ich meiner Organisation hier ja auch von tieferem Nutzen sein. Sie sollen mir nicht nur Sachen beibringen, sondern sie wollen ja eigentlich auch was davon haben. Wir werden also irgendwie die Ballance finden müssen zwischen meinem neu gefundenen Drang nach mehr Wissen und den „Schulden“, die ich meiner Organisation gegenüber habe. Falls man das so nennen kann. Es gibt noch so viel mehr zu entdecken und auszuprobieren, hier um mich herum und in mir drin, noch so viele Schatten, über die ich springen könnte. Die Zeit drängt; es sind nur noch ein paar Monate. Oder ist das der nächste große Schatten, über den ich springen muss: Dass ich die Zeit des Lernens nicht auf den Freiwilligendienst beschränken sollte, sondern den kompletten „Lebensplan“ überdenken? Noch fehlt mir dazu der Mut.
Ich habe das Gefühl, dass mir der Freiwilligendienst bisher mehr gegeben hat, als ich selbst zurückgeben konnte. Und ich bin den Menschen in meiner Umgebung hier wahnsinnig dankbar für diese Erfahrungen. Die Arbeit von GAIA Kosovo basiert größtenteils auf Volunteerarbeit, und ich habe sehr vieles hier von aktuellen oder ehemaligen GAIA-Freiwilligen gelernt. Morgen kommt der erste neue Long-Term-Volunteer hier an, seit ich hier angefangen habe. Und diesmal bin dann ich dran mit Wissen weitergeben. Das ist auch eine neue Erfahrung.
Für GAIA geht dann mit dem neuen Freiwilligen alles wieder von vorne los: Überschwang bremsen, eingewöhnen, seine Kompetenzen suchen. Er wird seine Fähigkeiten erweitern oder ganz neue entdecken. Freiwillige bedeuten Investitionen von Zeit, Geld und Nerven für die Organisation. Und wie gesagt, ich bin nicht sicher, ob sich das die Waage hält mit dem, was sie dann am Ende von einer*m von uns bekommen. Denn beim Lernen machen wir alle Fehler; würden anstelle von uns hier Profis arbeiten, wären wir mit Sicherheit um einiges effizienter. Stattdessen sind wir hier ein Team, das fast nur aus Freiwilligen besteht. Wenn also einer von uns nächsten Monat seinen Dienst beendet und geht und gleichzeitig jemand neues kommt, ist das doch wirtschaftlich betrachtet für die Organisation ein Rückschritt, oder etwa nicht?
Vielleicht. GAIA wird dadurch nicht reicher an Geld und die Arbeit wird nicht schneller vorangehen, das ist klar. Denn eigentlich ist das deklarierte Ziel nicht, Langzeitfreiwilligen Gärtnern und Holzarbeiten beizubringen, sondern die einheimische Bevölkerung für Umweltthemen, für Müllvermeidung und Selbstversorgung zu sensibilisieren. Und in unseren Seminaren und Workcamps sollen Serben, Albaner und Roma miteinander in Kontakt gebracht werden. Damit bin ich ja eigentlich nicht das zentrale Objekt, das Ziel einer Änderung oder Gegenstand des Dialogs. Ich bin eher ein zwischengeschaltetes Werkzeug, das GAIA verwendet, um seine eigentlichen Ziele umzusetzen. Und das Werkzeug „Freiwillige*r“ hat Vor- und Nachteile gegenüber von Festangestellten.
Die würden über Jahre hier bleiben und natürlich ihr Wissen erweitern und man müsste ihnen nicht dauernd alles neu beibringen. Aber: Durch jede*n neue*n Freiwillige*n wird frischer Input kommen mit neuen Ideen. Wissen wird nach ihrem Freiwilligendienst mit ihnen in die Welt hinauswandern. Klingt nach Idealismus. Und das ist es auch. Und der wird hier gelebt. (Also soweit es kosovarische Gesetze zulassen. Und vermutlich sind Freiwillige um einiges billiger.)
In diesem Sinne bin ich für meine Organisation vielleicht wirklich ersetzbar. Ich fahre mit der Schubkarre Stroh durch die Gegend, ich miste den Hühnerstall aus oder ich bearbeite Bilder und Videos für Social Media. Das ist alles kein Hexenwerk, das kann jede*r, oder man kann es lernen. Aber: Jede*r Freiwillige hier vor mir durfte vieles lernen und dann in die Welt hinaustragen, und so wird es auch bei mir sein. Jede*r erlebt diesen prägenden Moment des Nullpunkts, wo man sich wieder wie ein unwissendes Kind fühlt und mit einem Mal alles lernen möchte. Jede*r wird sich hier einbringen mit seinen oder ihren persönlichen Fähigkeiten und wird dabei Neues über sich entdecken.
Wenn ihr mehr über Antonias Freiwilligendienst erfahren wollt, lest hier ihren Blog: https://antoniatraveljournalism.wordpress.com/