„Vielleicht in Deutschland“ – Gespräch mit einer, die auswandern will

In diesem Blogeintrag möchte ich von einem Gespräch mit Janna* erzählen. Janna kenne ich fast seit Beginn meiner Zeit in Jajce, sie ist Mitte 30, spricht gut Deutsch. Janna möchte im Juni auswandern – nach Deutschland. Wir haben uns über ihre Gründe auszuwandern unterhalten, über ihre Pläne und das, was sie hier erlebt. Korrigiert haben dieses Mal mein Vater und Henrike – vielen Dank!

Vor unserem Gespräch dachte ich noch, dass Auswandern für Janna eine von mehreren Möglichkeiten für die nächsten Jahre ist. Da habe ich mich getäuscht. Vor einem Jahr haben Janna und ihr Mann entschieden, dass sie nach Deutschland ziehen wollen, vor zwei Monaten ist Jannas Mann ausgewandert und zu Beginn der Sommerferien will sie nachkommen. Der Plan ist gefasst, nicht nur für Janna: So wie sie und ihr Mann verlassen pro Jahr im Moment etwa 36.000 Menschen Bosnien und Herzegowina um in einem anderen Land ein anderes Leben zu beginnen. Das ist so, als würde in Kassel jedes Jahr die Hälfte der Brasselsberger*Innen wegziehen.



Als Jannas Mann losfuhr, hatte ein Freund in Deutschland schon eine Wohnung und einen Job für ihn gefunden. Für Janna bestehen die Vorbereitungen jetzt auch im Deutschlernen. Damit sie in einer ähnlichen Stelle arbeiten kann wie hier, braucht Janna noch ein Sprachzertifikat.

Warum sie auswandern will? Janna erzählt mir von der Situation der Menschen in Bosnien und Herzegowina, von Ungerechtigkeiten im Alltag und einer Art von Korruption, die sie selbst erlebt hat. Sie sagt: „In Bosnien-Herzegowina sind nicht alle Leute ...wie sollte ich das sagen... Menschen. Und man kann das hier nicht so fühlen, dass einen alle respektieren wie einen Menschen. Und es ist schwer, das zu sehen.“ Was Janna erzählt, kann ich mir gut vorstellen. Weil sie passende Worte dafür findet, aber auch, weil ich schon mehrfach von Korruption in Bosnien und Herzegowina gehört habe. Transparency International erstellt jedes Jahr eine Weltrangliste über die wahrgenommene Korruption. Auf dieser Liste nahm Bosnien und Herzegowina 2017 Platz 91 von 180 ein. Von 100 Punkten (je höher der Wert, desto höher die Korruption) erreichte es 62. Zum Vergleich: Deutschland liegt mit 19 Punkten auf Platz 12, Argentinien mit 61 auf Platz 85.

Bekannte von Janna haben ihr erzählt wie sie in Deutschland leben, dass sie zufrieden sind und für ihre Arbeit fair bezahlt werden. Aber das ist viel weniger entscheidend für ihren Auswanderungsplan, als die Situation hier. Janna ist unzufrieden, nicht nur wegen der Korruption, sondern auch wegen Politikern, die, sagt sie, nur von nationalen Strukturen und dem Krieg sprächen, aber nichts für die Menschen tun. Sie erzählt, dass hier vieles schlechter, aber nichts besser wird und von Jugendlichen, die nach der Schule keine Arbeit in Jajce finden. „Vielleicht als Kellner“, sagt Janna. Aber die meisten müssten wegziehen um arbeiten, studieren und von ihren Eltern finanziell unabhängig werden zu können. Die Arbeitslosenquote lag in Bosnien und Herzegowina 2017 bei etwa 40 %, mehr als die Hälfte der Jugendlichen ist arbeitslos. Viele, die so alt sind wie ich, werden erst ausziehen, wenn sie verheiratet sind und eigenes Geld verdienen.

Janna hat nach ihrem Abitur studiert und in Jajce eine volle Stelle bekommen. Sie verdient umgerechnet etwa 500 € im Monat. Sicher sind die meisten Produkte hier günstiger als in Deutschland. Aber wer in Deutschland in Jannas Job arbeitet, kann sich meistens ein Haus in guter Lage, ein modernes Auto und einen schicken Sommerurlaub leisten. Auch Janna hat ein Auto – das Modell sieht man in Deutschland aber kaum noch. Die durchschnittliche Kaufkraft ist in Deutschland mehr als vier Mal so hoch wie in Bosnien und Herzegowina.

Jannas Deutsch ist wirklich gut. Sie ist sympathisch, lacht viel und wirkt auf mich offen und sehr motiviert. Darüber, dass sie Jajce verlässt, ist sie jetzt nicht traurig. Sie hat zwar als Kind in Bosnien gelebt, aber dann kam der Krieg. Nach der Flucht aus Bosnien lebte sie in Kroatien, dann in Österreich und dann nochmal für eine längere Zeit in Kroatien. Nach ihrer Hochzeit kam Janna nach Jajce, um mit ihrem Mann zusammen zu wohnen. Sie sieht jetzt, wo er in Deutschland ist, keinen Grund mehr, noch in Jajce zu bleiben. Hier, erzählt sie, hat Janna „nicht sehr viele Freunde“, aber eine beste Freundin, die sie vermissen wird.

Jannas Entschlossenheit beeindruckt mich. Noch mehr, als sie sagt, dass sie nicht weiß warum, aber dennoch keine Angst hat. „Du beginnst ein neues Leben, wenn Du nach Deutschland gehst. Was für ein Gefühl ist das?“, frage ich sie. „Ich bin aufgeregt. Positiv.“, antwortet Janna. Ich frage noch, worauf sie sich in Deutschland freue. Janna zeigt auf eines der Nachbargebäude, das vom Krieg gezeichnet ist, und sagt: „Ich freue mich, nicht mehr so ein Gebäude zu sehen wie das da, was niemand repariert. Ich freue mich, gesunde Kinder zu sehen, die für ihre Medikamente nicht bezahlen müssen wie hier. Und ich freue mich, ein Land zu sehen, das viel mehr Ordnung hat. Und Gerechtigkeit.“

Es ist in Bosnien und Herzegowina nicht selbstverständlich, eine Krankenversicherung zu haben. Bekannte von mir mussten als Familie die Hüft-OP ihrer Großtante finanzieren. Eine Andere würde gerne zum Arzt gehen, ohne ihrer Mutter die Gründe zu erläutern. Das kann sie nicht – ihr fehlt das Geld, um die Untersuchung zu bezahlen. Deswegen geht sie nicht zum Arzt, auch wenn es vielleicht nötig wäre.
 

Es kann natürlich sein, dass es für Janna in Deutschland anders wird, als sie es sich erhofft. Man merkt ihr aber an, dass sie das nicht glaubt. Wenn doch, würde Janna dann vielleicht nach Kroatien ziehen. Sie sieht sich nicht mehr in Jajce, weder jetzt, noch im Alter.

Auf meine Frage, wo wir uns in 10 Jahren treffen, antwortet Janna: „Vielleicht in Deutschland.“ Mal schauen, was in 10 Jahren ist. Aber wenn wir uns begegnen sollten, freue ich mich schon jetzt darauf!

Zum Artikel: *Janna möchte nicht erkannt werden – deswegen habe ich den Namen und einige Details verändert und nicht alles genau beschrieben.

Die Zahlen, die ich nenne, habe ich hoffentlich sorgfältig genug recherchiert. Klar ist aber, dass auch Statistiken über Bosnien undHerzegowina oft politisch eingefärbt sind.

von Linda Becker